Freitag, 5. August 2005

von a nach b

bahn


drown in frustration
grau
die wolken
der himmel
die gesichter um mich herum
selbst die s-bahn-sitze
eigentlich plastik-rot, wirken wie von einem grauschleier überzogen
monotones s-bahngeratter vermengt mit den üblichen begleitgeräuschen
das rascheln einer zeitung
ein heiseres räuspern
aber kein lachen
morgens um sieben uhr dreissig fühlt sich vermutlich alles grau an
die menschen um mich herum versunken
in ihrer eigenen frustration
gesichter nur masken
mein kugelschreiber grün
die farbe der hoffnung
die rettung, dass mich dieses grau nicht erstickt
mein kopfkino
versunken darin
die flucht aus der wirklichkeit
"ich gehe in ein anderes blau".




ein weiterer tag
in der folge endloser tage
kurz vor irgendeiner station
der zug ruckelt
hält
eine stimme aus dem lautsprecher:
"sehr geehrte fahrgäste, wir bitten um ihr verständnis
ein baumstamm versperrt die schienen und muss zuerst von der feuerwehr geräumt werden
die weiterfahrt verzögert sich vermutlich um ca. 15 minuten
bitte haben sie geduld"
aufgeregtes gemurmel
unzufriedenheit macht sich breit
man kann die anspannung der mitfahrer fast körperlich spüren
keine zeit, keine zeit
keine geduld
keine spannung
nur anspannung
wir müssen weiter, immer weiter
ich grinse
das bringt alle bestimmt voll auf die palme
die palme
ich schliesse die augen
sehe sie förmlich vor mir
die palme
wie sie quer über den schienen liegt
und direkt neben den gleisen
strand
reggae-klänge, die der wind herüberweht
eiswürfel, die in coktailgläsern schmelzen
am liebsten würde ich die notverriegelung öffnen
und aussteigen
die schuhe und die strümpfe gleich auf dem sitz zurücklassen
aber auch ich muss weiter
immer weiter.



da ist dieses mädchen
jeden morgen steigt sie zwei stationen nach mir ein
immer trägt sie eine sonnenbrille
jeden tag
egal ob sonnenschein oder regen
vermutlich würde selbst ein schneesturm sie nicht davon abhalten
ihre brille abzusetzen
heute habe ich sie das erste mal unverblümt angestarrt
gleich nachdem sie eingestiegen ist
sie lächelte
ich zog die augenbrauen hoch
tippte auf meine augen
sie lächelte wieder
nickte
und nahm die brille ab
für 3 sekunden
bevor sie ihr gesicht wieder in ein undurchdringliches geheimnis verwandelte
ihre augen sind blau.




die türen öffnen sich zischend
leute steigen aus
andere ein
ich döse, bin im halbschlaf
öffne die augen
als das plastikpolster
auf dem ich sitze quietscht
weil sich jemand neben mich setzt
ich traue meinen augen kaum
es ist der osterhase
schnaufend setzt er einen grossen korb ab
in dem sich lauter schokoweihnachtsmänner befinden
meine fragenden blicke animieren ihn zu einem monolog:
"ja, mann, jedes jahr dasselbe spiel, ostern längst vorbei
alle kids abgefüttert mit unmengen an kalorien
karies lässt grüssen
adipositas vorprogrammiert
und trotzdem same procedure as every year, alder
die schokoladen-industrie checkt es einfach nicht
überproduktion
eier, die keiner haben will und die auch bei 50% rabbat zum echten ladenhüter werden
verzweifelte marktleiter, die mir das zeug einfach vor die tür schütten
da hab' ich mir doch glatt diese weihnachtsmann-schoko-presse organisiert
aus dem katalog
ein echtes schnäppchen, das kann ich dir flüstern
eine heidenarbeit
aber besser als das zeug verkommen zu lassen
bis oktober habe ich den kram meist verkauft und die abteilung "nordpol"
übernimmt das geschäft."
eine monotone stimme kündigt die nächste station an
der osterhase winkt mir nocheinmal mit beiden hasenohren
und hoppelt davon
aus der tür heraus
und verschwindet in der menge.




"wenn ich gross bin, werde ich feuerwehrmann, dann fahre ich das rote feurwehrauto
mit viel tatütata und düse um alle ecken."
"wenn ICH gross bin werde ich astronaut und fliege zum mars
da sage ich dann den marsmännchen guten tag und aufwiedersehen
und flieg' dann in meiner rakete wieder nach hause"
"aber ich werde polizist, wenn ich gross bin, dann fange ich alle verbrecher
und sperre sie bei mama und papa im keller ein"

kinderstimmen dringen in meine kleine welt
beim letzten halt der s-bahn
ist eine kindergartengruppe eingestiegen
die kleinen menschen wuseln durch die gänge
klettern sitze rauf und wieder herunter
bohren in der nase
planen mit kindlichem eifer ihre zukunft

mit sechs jahren stehen einem noch alle türen offen
das leben ist eine grossartige sache, die es zu entdecken gilt
jeder tag hält neue überraschungen bereit
hinter jeder ecke warten neue abenteuer

ich weiss noch genau
wie mein onkel mir zum sechsten geburtstag die carrera-bahn schenkte
stundenlang fuhren wir wettrennen
und immer liess er mich gewinnen
ich fühlte mich grossartig
ich war der schnellste
ich hörte die zuschauer jubeln
stand auf imaginären siegertreppchen
und liess mir loorbeerkränze um den hals hängen
ich war kool, mann!
und eines war absolut klar:
wenn ich gross wäre, wollte ich rennfahrer werden.
damals lag die zukunft noch vor mir und wollte gelebt werden
heute ist sie vergangenheit
und ich bin auf dem weg
ich bin kein rennfahrer geworden
aber immernoch höre ich die jubelschreie
das röhren der motoren
wenn ich die augen schliesse.




ein kleiner sossenfleck
lächelt mich an
rechts oberhalb meines linken kniees
auf der jeans
die achtlos in die ecke geworfen wurde
als die nacht und die bettdecke
sich über uns legte
und die dunkelheit uns verschlang
ich mich in ihr verlor

für einen moment verschwimmen die menschen um mich herum
ich sitze nicht mehr hier in der bahn
plastik wird zu holz
grelle morgensonne zu kerzenschein
der unsere gesichter in sanftes licht hüllt
ihr mund
der unentwegt lächelte
während sie ihr quiche lorraine in kleine stücke zerteilte
worte, die an bedeutung verloren
weil die blicke für sich sprachen
meine hände, die zitterten
nicht mehr kool sein
nicht mehr gefasst
und dann die gabel
die mir aus der hand glitt
und diese erinnerung hinterliess.




"je ne peux pas vivre sans ma radio
mon transistor j'adore" (stereo total)

jeden morgen das gleiche spiel
der kampf
um ein paar minuten
die schneller als sekunden zerfliessen
mein radio und ich
eine hass-liebe
ich kann nicht mit
ich kann nicht ohne
leben
schlafen
wie oft musste es unter meinen schlägen leiden
um dann am nächsten morgen
stoisch und mit unbeugsamer treue
wieder um 6.30 uhr seine melodien erklingen zu lassen
ich bettele, verhandele
noch fünf minuten
bitte
eine gnadenfrist
und bekomme sie jedesmal
bin fast versöhnt
träge
warm
zurück
im traum
bis es unerbittlich erneut
sein grausames tagewerk verrichtet

in den leisen abendstunden
betrachte ich es zärtlich
es wiegt mich in den schlaf
unterhält mich
wenn die langeweile mich zu ersticken droht
ist für mich da
mein freund.




und wir kaufen, kaufen und kaufen
im vorbeigehen
das brötchen beim bäcker (ich war zu faul mir ein brot zu schmieren)
die cola am kiosk (wasser hätte es auch getan)
die zeitung (gefüllt mit nichtssagenden schlagzeilen und halbwahrheiten)
kaufen
mitnehmen
im laufschritt
die fahrkarte am automaten (die monatskarte grinst vergessen und verächtlich auf dem küchentisch)
kaufen
zigaretten (ich wollte gestern aufhören, nein, morgen, mal sehen)
kleingeld
scheine
kaufen
nur schnell
das geld kommt aus der wand
in mein portmonaie
nur ein kurzer zwischenhalt
auf dem weg aus meiner hand
in andere hände
automatenschlitze
die gefüttert werden wollen
hungrig nach mehr
ich habe mehr
und dann wenig
ich brauche die notbremse
die rationalität
die mich bewahrt
vor dem, was ich nicht brauche
brauche sicherheit
wo ist der automat
auf dem steht
"wir schützen sie vor sich selbst"?




sie sagte
bring' mich irgendwo hin
irgendwo
somewhere nice
eine insel
auf der wir beide
wir sein können
ohne prüfende blicke
ob wir passend sind
so sind wie wir sein sollten
sondern so sind
wie wir sein wollen
ok, sage ich
home is where our hearts are
zuhause
noch drei stationen
ihre warme hand in meiner
steigen wir aus
rennen durch den regen
der alles abwäscht
den schmutz des tages
die sorgen
verschoben auf morgen oder übermorgen
tür zu
stille
die nur uns gehört.




wanted dead or alive
sie hat mich verlassen
ist nicht mit eingestiegen
als die s-bahntüren sich öffneten
und ich meinen stammplatz
hinten links seufzend erreichte
wie schon so oft
ist einfach gegangen, wenn ich sie am nötigsten brauchte
ist zum greifen nah
um sich dann heimlich aus dem staub zu machen
wenn ich mich an sie klammere
lässt sie los
wenn ich keinen gedanken an sie verschwende
steht sie vor mir
fragt nicht, ob es gerade passt
ob ich zeit für sie habe
ob die gelegenheit günstig ist
manchmal überrennt sie mich
erschlägt mich mit ihren wirren konstrukten
und dann wieder liebe ich sie
wir umarmen uns
sie gibt mir kraft
und bringt den tag zum leuchten
meine inspiration
phantasie ist energie
zurückgekehrt
keine reue
hocherhobenen hauptes
energie
meine inspiration.




ich sitze im falschen zug
falsche linie
die falschen stationen
nur einmal nicht aufgepasst
und wieder einmal zuviel in meinen träumen verloren
habe keine ahnung, wo ich bin
und wie ich jetzt am schnellsten zurückkomme
jetzt bräuchte ich eines dieser wunderschönen mädchen
die an jeder strassenecke stehen
flyer verteilen
neue zigarettenmarken anbieten
getränke zum probieren eingiessen
überzeugende argumente für dies und das und auch jenes liefern
hilfreiche hände
wissende augen
empathische ohren
blaue uniformen sollten sie anhaben
mich an die hand nehmen
einen fahrplan in der eigenen hand halten
das agenturlogo auf die linke brusttasche gestickt
das absolution gewährt
wenn das eigene handeln
in diesem blauengrünengelbenrotenlila-liniengewirr
verloren gegangen ist.




live at the s-bahn
jeden mittwoch rockt der kerl den waggon
seine gitarre heisst erwin
er stellt sie den desinteressierten gesichtern
geduldig
und immer wieder
persönlich vor
"sie können erwin ruhig mal streicheln
er beisst nicht
der will nur spielen
und ich auch"
dann singt er von ländern
die er in seinen träumen bereist
und unter seiner brücke
wohl nie zu sehen bekommt
die schiffe, die aus dem hafen fahren
die schwalben, die gen süden ziehen
und er wäre gerne wie sie
meist reicht seine reise nur
von einer station zur nächsten
bevor er hastig ein paar cents
in seinen gitarrenkoffer stopft
gespendet von menschen
deren ohren noch nicht zu stein geworden sind
die eine schwalbe im herzen haben
wirft einen blick auf die kontrolleure
und setzt seine tour
in einer anderen u-bahn-linie fort
live
ohne netz und doppelten boden.




"bin weder fräulein, weder schön, kann ungeleitet nach hause gehen."(faust/ j.w. goethe)

ein schöner morgen
der sich über mir
über den u-bahn-tunneln
in einen noch schöneren tag verwandelt
der morgen hat es verdammt gut
eine wolke vor der sonne
macht noch lange keinen bad-hair-day aus ihm
bin ich schön?
jeden morgen spiele ich
dieses sinnlose frage-spiel
in der hoffnung
das nur ein mensch
nur ein einziger
in der grauen masse des einerleis aus mitfahrern
meine frage erahnen kann
mich anschaut
und mir durch blicke gewissheit verschafft
abgekauter daumennagel
der blöde kleine pickel
rechts neben meiner nase
die ich schon immer unbedeutend fand
das shirt
noch im halbschlaf im dunkel meiner wohnung
wahllos aus dem schrank gegriffen
ungebügelt
schönen guten morgen
du schöner tag
da hast du aber was schönes angerichtet
schön blöd
wer schön sein will, muss leiden?
in der schönen neue welt
bitteschön
dankeschön
wunderschön
bin ich schön?




"wir sind angekommen
und alles andere ist egal" (virginia jetzt!)

ich kann jederzeit aussteigen
das ist ein guter gedanke
aussteigen
ich bin auf meinem weg
alle menschen um ich herum sind auf ihrem ureigenen weg
steigen ein
steigen wieder aus
haben ihre ganz persönliche endstation
der weg ist das ziel
aber auch das ende eines weges ist ziel
stillstand ist tod
aber ankommen ist überlebensnotwendig
damit man weitergehen kann
sind angekommen
noch fünf minuten
meine hände kribbeln
mein körper hat sich in gedanken schon erhoben
den roten knopf gedrückt
der die türen öffnet
noch einmal tief durchatmen
ich bin da
das hier ist die endstation
und ein neuanfang
hier
bin
ich.



diese texte enstanden als arbeit für einen guten freund, der seine bewerbung als mediengestalter in form eines tagebuches präsentieren wollte. als grundlage dienten seine entwürfe für logos und webseiten

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https://zuggermuddi.twoday.net/stories/881409/modTrackback

Au-lait - 13. Aug, 13:52

Großartig!!! Generell tolle Seite. Und ein dickes Lob für Deinen Musikgeschmack (Dredg und Seeed) gibt's mit goldener Schleife noch obendrauf. Chapeau! :)

zuggermuddi - 13. Aug, 18:37

sie sind ja der einwohner absurdistans, schön, dass sie sich auf meine seite verirrt haben. hatten sie eine lange reise?

und danke für ihre schönen worte, die werde ich ebenfalls mit einer goldenen schleife verschnüren und sie (leicht errötend) behalten.
morast - 12. Sep, 11:37

Eigentlich...

... wäre es als sinnvoll zu erachten, meinen Kommentar - in blogtypischer Ermangelung eines Gästebuchs - unter den neuesten, aktuellsten Beitrag zu schreiben, obgleich/weil er nichts mit diesem, nichts mit irgendeinem speziellen Text dieses Weblog zu tun hat, sondern mit allen, allen vorhandenen, auffindbaren.

Doch das obige Gedicht [?] bewegte, berührte, mich derart, daß es eine optimale Plattform bietet, um das auszudrücken, was sich auch in weniger Worten zusammenfassen ließe.

Ich bin fasziniert, begeistert, angetan, von Stil und Inhalt deiner Schreibe, habe diese soeben erst entdeckt und schon mehrere beglückte Minuten verbingen können, rückwärts in die Vergangenheit lesend, lächelnd und für die Zukunft Ähnliches erhoffend.

zuggermuddi - 12. Sep, 12:46

mh, ich habe mir nie darüber gedanken gemacht, in welche schublade die texte da oben eigentlich gehören, gedichte sind es aber nicht, der auftrag damals lautete "tagebuchtexte" zu schreiben, die zu den screenshots passen sollten, die mir geschickt worden sind.
aber ich bin furchtbar stolz auf diese arbeit, weil das ein auftrag war und deshalb sich stück für stück entwickelt hat.
für jemand fremdes zu schreiben ist immer etwas anderes, als gedanken, die irgendwie schon existent im kopf waren, niederzulegen.

insofern bin ich dankbar für jeden positiven kommentar.

dankeschön!

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